Ernst Wolfgang Orth – Ein Nachruf

Am 1. März 2024 erfuhren wir vom Tod von Ernst Wolfgang Orth, der von 2007 bis 2009
Präsident der Scheler-Gesellschaft war. Wir veröffentlichen hier den von Ralf Becker,
Christian Bermes und Karl-Heinz Lembeck verfassten Nachruf (ursprünglich erschienen auf
der Website der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau).

Ernst Wolfgang Orth (1936-2024) Ein Nachruf

Ernst Wolfgang Orth wurde am 9.08.1936 geboren. Nun ist er am 1. März dieses Jahres in
seiner Heimatstadt Trier im Alter von 87 Jahren verstorben.

Orth studierte Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre die Fächer Germanistik, Geschichte,
Philosophie und Psychologie an den Universitäten Mainz und Freiburg. 1965 promovierte er
in Mainz mit einer Arbeit über die Sprachphilosophie bei Husserl und Hönigswald
(erschienen 1967). Von 1962 bis 1970 war er Assistent bei Gerhard Funke in Mainz. 1970
erhielt er einen Ruf an die soeben neu gegründete Universität Trier, wo er bis zu seiner
Emeritierung 2001 als Professor für Philosophie wirkte. Während seiner aktiven Zeit nahm er
mehrfach Gastprofessuren an ausländischen Universitäten wahr (1983 Penn State, 1985
Ottawa, 1989 Mailand, 1995 Graz, 1998 Kyoto). Er war von 1978-1983 Vizepräsident und
von 1983-1987 Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung
sowie 2007-2009 Präsident der Max-Scheler-Gesellschaft. Schließlich war Herr Orth von
1981-1988 auch Geschäftsführer der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in
Deutschland.

Philosophiehistorisch lagen seine Forschungsschwerpunkte auf dem 19. und 20. Jahrhundert.
Insbesondere die Phänomenologie des frühen 20. und die diversen neukantianischen und
lebensphilosophischen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts standen dabei im
Fokus. Wenn man nach problemgeschichtlichen Titeln suchen wollte, die Orths Lesart der
Philosophie dieser Zeit umschreiben, könnte man den Titel eines seiner Bücher zitieren: Von
der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie (1996). In dieser Spanne drückt sich die
Problemgenese eines philosophischen Fragens aus, das den Verlust letzter
Erkenntnisgewissheiten gegen den Gewinn aufrechnet, den die Einsicht in konkrete
Bedingungen menschlichen Weltverständnisses zu geben verspricht – selbst und gerade dann,
wenn diese Bedingungen sich als nur vorläufig stabil, weil historisch und kulturell offen
erweisen.

In vielen Publikationen hat Orth auf die Pointen dieser Entwicklung aufmerksam gemacht.
Dabei können die meisten Positionen, mit denen er sich auseinandersetzt, als

Vermittlungsmodelle von Transzendental- und Kulturphilosophie verstanden werden. Orth
führt solche Modelle – etwa Husserls oder Cassirers – auf eine ursprüngliche
Doppelmotivation der Transzendentalphilosophie zurück. Einerseits hat sie die entschiedene
Thematisierung des Menschen, genauer: der menschlichen Subjektivität zu ihrer
Voraussetzung. Sie setzt darauf, dass alle Weltkenntnis Kenntnis im menschlichen
Bewusstsein ist und dass dieses Bewusstsein seinerseits die einzige Instanz ist, deren sich der
Mensch authentisch versichern kann. Andererseits ist aber von diesem Menschen als einer
wesentlich kontingenten Größe in prinzipientheoretischer Fragestellung gerade abzusehen.
Bei Husserl drückt sich das im Gedanken der Reduktion auf vermeintlich reine
Bewusstseinsstrukturen aus; bei Cassirer zeigt es sich in der Freilegung universeller
Funktionen der Vernunft. Der Mensch scheint daher als Ausgangsbasis transzendentaler
Reflexion nur thematisiert zu werden, um gleich wieder beiseite geschoben zu werden.

Diese Ambivalenz lässt sich offenbar nur bewältigen, wenn die Anthropologie sich im
Rahmen der transzendentalphilosophischen Epistemologie nicht als Hindernis, sondern als
notwendige Perspektive erweisen lässt. Und genau dies, so versucht Ernst Wolfgang Orth bei
vielen Gelegenheiten nachzuweisen, ist eine Einsicht, die nicht nur Husserl und Cassirer je
auf ihre Art gewonnen haben, sondern die von einem großen Teil der Philosophie der
infragestehenden Epochen mehr oder weniger deutlich expliziert wurde. Die
Erfahrungsinstanz, auf die die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit
von Erkenntnis zurückzugreifen hat, ist keine geringere als der volle, der ganze Mensch. Die
anthropologische Philosophie des 20. Jahrhunderts, so lautet darum die These, hat in der
Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts ihre prinzipielle Basis. Das ist keine Reduzierung,
weil Anthropologie hier nicht als Einzelwissenschaft verstanden wird, und weil ihre
Erkenntnisse auch nicht nur zur punktuellen Unterstützung philosophischer Argumente
herhalten sollen – sondern weil die Anthropologie hier in die Rolle einer Ersten Philosophie
schlüpft, die den Menschen sowohl als Basis wie als Fluchtpunkt jeder möglichen
Orientierung über die Welt, aber ebenso jeder Orientierung über solche Orientierung, also als
Basis und Fluchtpunkt auch der Philosophie selbst versteht.

Dass solche Einsichten sich ihrerseits erst einer ganz eigentümlichen Denkentwicklung
verdanken, beweist der Umstand, dass besagte Argumentation für eine Art
‚Vermenschlichung des transzendentalen Subjekts‘ in frühen Publikationen Orths noch
entschieden zurückgewiesen und vor einer Überbewertung anthropologischer Ansprüche in
der Philosophie gewarnt wurde. Später, 1990, durfte dann jedoch, was einst bei Strafe
verboten war, sogar als prominenter Titel eines seiner wichtigsten Aufsätze glänzen:
Anthropologie als erste Philosophie. Auch solche herausfordernden Thesen haben veranlasst,
dass man Orth einmal als Philosophen der ‚vorletzten Dinge‘ bezeichnet hat. Das war gewiss
nie despektierlich gemeint, sondern im Licht seiner Erkenntnis formuliert, dass
transzendentale Fragen nach den Bedingungen unserer Welterkenntnis nicht zu letzten
Prinzipien, sondern vielmehr auf die okkasionellen Verumständungen unseres Denkens, d.h.

auf die Anerkennung der Geschichtlichkeit und Kulturalität des menschlichen Bewusstseins
führen – ganz in der Tradition Diltheys, Husserls oder Cassirers. Und es sind diese
Bedingungen eben stets nur vorletzte, weil sie sich ändern können, verabschiedet werden
können, sich neue ihnen zugesellen können. Die Normativität lebensweltlicher Orientierung
erweist sich dann als eminent flüchtig; die Philosophie jedoch, sofern sie nach Orths Begriff
ihrerseits eine Orientierung über solche Orientierung zu leisten hat, soll derartige Normen nur
beschreiben und will sie nicht einfach teilen. Um das Aperçu Husserls von einer Philosophie
der Endlichkeit im Bewusstsein der Unendlichkeit zu modifizieren, darf man Ernst Wolfgang
Orths Philosophie deshalb vielleicht als eine Philosophie der vorletzten Dinge bezeichnen,
jedoch im Bewusstsein der Möglichkeit und Notwendigkeit auch letzter Dinge.

Ralf Becker, Christian Bermes und Karl-Heinz Lembeck